Textanalyse: 'der Prozesss' ,
'Türhüter-Parabel'
Im vorliegenden
Textauszug wird ein Gespräch zwischen K. Und einem Geistlichen
beschrieben. Die Beiden treffen sich in einem Dom, der Geistliche
scheint auch zum Gericht zu gehören. In ihrem Gespräch erklärt der
Geistliche K., dass er sich in dem Gericht täusche und erzählt ihm
dazu eine Geschichte. Die Geschichte handelt von einem Mann, der bei
einem Türhüter um Einlass in das Gesetz bittet. Er wird abgwiesen
und wartet bis zu seinem Tod zu den Füßen des Türhüters. Er
bittet immer wieder um Einlass, stellt jedoch die entscheidende
Frage, warum er nicht eingelassen wird, nicht. Er befasst sich nur
oberflächlich mit den Gründen und kommt nicht darauf, dass er
selbst der Grund ist, aus dem ihm der Eintritt verwehrt wird.
Der Textauszug
beginnt damit, dass K. Im Dom auf den Geistlichen trifft:“der
Geistliche streckte ihm schon von einer oberen Stufe die Hand
entgegen“(Z.1-2). Diese Geste des Geistlichen zeigt, dass er K.
Deutlich überlegen ist. Außerdem bietet er K. Seine Hilfe an, er
kommt ihm entgegen. Auffällig sind hier die räumlichen
Verhältnisse, die durchaus symbolisch aufgefasst werden können:“sie
gingen nebeneinander im dunklen Seitenschiff auf und ab.“(Z.4-5).
Das 'dunkle Seitenschiff' spiegelt K.s inneren Zustand . Das
Seitenschiff wirkt bedrückend und unheimlich- so wie auch der ganze
Prozess auf K.wirkt.
Nachdem der
Geistliche K.versichert, genug Zeit für ihn zu haben, reicht er ihm
eine kleine Lampe. Auch das kann symbolisch aufgefasst werden: Das
Licht der Lampe könnte für einen kleinen Hinweis stehen, den der
Geistliche K.geben wird.
Ob K. Die Lampe
annimmt wird nicht gesagt und bleibt ungewiss. Gewiss ist nur, dass
er das 'Licht ' der Erzählung nicht aufgreifen wird. Das wiederrum
spiegelt K.s Unsicherheit und Unentschlossenheit wider.
In dem Gespräch
geht K.anfangs sehr offen auf den Geistlichen zu:“ich habe mehr
Vertrauen zu dir als zu irgendjemand von ihnen(...)“(Z.7). Der
Geistliche aber weist ihn in kargem Tonfall zurück:“Täusche dich
nicht.“(Z.8). K.redet an dieser Stelle in viel längeren Sätzen
als der Geistliche. Dadurch klingt K.verzweifelt und hilfesuchend
aber auch nervös und unsicher.
Auf die Frage
hin, worin er sich denn eigentlich täusche, antwortet der Geistliche
in eindringlichem Tonfall:“in dem Gericht täuschst du
dich.“(Z.8-9). Durch den inversiven Satzbau liegt die Betonung auf
dem Gericht. Das unterstreicht, dass K.sich in dem entscheidenden
Punkt täuscht. Außerdem wird das Wort 'täuschen' in verschiedenen
Formen in Zeile 7-10 insgesamt viermal wiederholt. Das hebt K.s
Fehleinschätzung des Gerichts noch stärker hervor und baut Spannung
auf: dadurch, dass das Wort 'täuschen' sooft genannt wird, wird
deutlich, dass es sich um eine bedeutsame Täuschung handelt. Worin
genau diese Täuschung liegt, wird nicht gesagt.
Anschließend
fängt der Geistliche an, K.die Geschichte des Mannes vom Lande zu
erzählen, der bei dem Türhüter des Gesetzes den Eintritt in das
Gesetz verlangt:“zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und
bittet um Eintritt in das Gesetz“(Z.10-11). Die Bitte an sich
klingt skurril: Ein Gesetz ist kein Gebäude, sondern ein ideeller
Sachverhalt.In der Parabel wird der Begriff jedoch metaphorisch
räumlich aufgefasst.
Die ersten Sätze
der Geschichte sind schlichte, aneinander gereihte, parataktische
Hauptsätze. Der Tonfall klingt lapidar und archaisch, was vor allem
in den ersten Zeilen der Parabel auffällt:“Vor dem Gesetz steht
ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und
bittet um Eintritt in das Gesetz.Aber der Türhüter sagt, dass er
ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und
fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen.'Es ist
möglich' sagte der Türhüter,'jetzt aber nicht'.“
Diese
Formulierung erinnert an ein die eines alten Märchens.
Der Tonfall des
Türhüters ist ähnlich apodiktisch, wie zuvor der des Geistlichen
K. gegenüber:“(...)Merke aber: ich bin mächtig.“(Z.16). Der
Türhüter erklärt dem Mann vom Lande, dass er ihm den Eintritt
nicht gewähren könne, aber dass er ruhig versuchen könne, an ihm
vorbei in das Gesetz zu gelangen. Er zählt darauf hin einige Gründe
in fünf aneinandergereihten, parataktischen Sätzen auf, warum es
zwecklos wäre, zu versuchen an ihm vorbei in das Gesetz zu
gelangen:“wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz meinem
Verbot hinein zu gehen.Merke aber: ich bin mächtig.Und ich bin nur
der untersteTürhüter.Von Sahl zu Sahl stehen aber Türhüter ,
einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann
nichteinmal ich mehr vertragen.“ Durch die Aneinandereihung dieser
Sätze wirkt die Hürde, die der Mann vom Lande zum Eintritt in das
Gesetz überwinden müsste, noch größer und unüberwindbarer.Der
Türhüter schildert, dass er nur der unterste Türhüter wäre und
im Gesetz noch viele weitere vorzufinden wären. Diese
Undurchschaubare Hierarchie erinnert an das Gericht, mit dem Josef K.
Zu tun hat.
Der Mann vom
Lande beschließt, zu den Füßen des Türhüter solange zu warten
bis er eingelassen würde. Wie m die lange Wartezeit zu
verdeutlichen, werden jetzt unwichtige, belanglose Deitails über das
Aussehen des Türhüter geschildert:“(...)seine große
Spitznase,den langen, dünnen, tartarischen Bart(...)“(Z.20). Das
Warten des Mannes wird außerdem sehr grotesk beschrieben(Z.22):“dort
wartete er Tage und Jahre.“. Normalerweise würde man es so
formulieren:“ dort wartete er Tage und Wochen.“. Der Sprung von
einer kleinen Zeiteinheit wie 'Tage' zu einer großen wie 'Jahre'
fällt auf und verstärkt das Gefühl, dass der Mann vom Lande einen
Ewigkeit zu den Füßen des Türhüters zugebracht haben muss.
Während dieser
langen Wartezeit, in der der Mann vom Lande unermüdlich immer wieder
um Einlass bittet, vertreibt er sich die Zeit damit, den Türhüter
ganz genau zu beobachten. Er fixiert sich nur noch auf diesen einen
Türhüter und scheint sein ursprüngliches Ziel längst aus den
Augen verloren zu haben. Dass er das Wesentliche nicht erkennt wird
an der folgenden Textpassage hervorgehoben:“er wird kindisch und da
er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in
seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe ihm zu
helfen(...).“ Der Mann vom Lande wird langsam alt und schwach. Im
Kontrast zu ihm scheint derTürhüter eine zeitlose Figur zu sein und
überhaupt nicht zu altern.
Auch wird der
Türhüter viel größer als der Mann vom Lande beschrieben:“der
Türhüter muss sich tief zu ihm hinunter neigen, denn die
Größenunterschiede haben sich sehr zuungunsten des Mannes
verändert.“(Z.41). Diese Metapher verdeutlicht die Unterlegenheit
und Schwäche des Mannes dem Türhüter gegenüber.
Langsam kommt
die Geschichte zu ihrem Ende. Der Mann vom Lande stirbt und kurz vor
seinem Tod- als es schon zu spät für ihn ist-stellt er die Frage,
die er all die Jahre längst hätte stellen
sollen:“
Alles streben doch nach dem Gesetz(...).Wie kommt es, dass in den
vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“(Z.44). Der
Türhüter antwortet eindringlich und in apodiktischem Tonfall:“hier
konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur
für dich bestimmt.Ich gehe jetzt und schließe ihn.“ Hier endet
der vorliegende Textauszug.
Erzähltechnisch
arbeitet die ganze Geschichte auf diese Pointe hin.
Auffällig ist,
dass der Türhüter oft in direkter Rede zu dem Mann vom Landde
spricht. Dieser jedoch nur ein einziges Mal, und zwar als er kurz vor
seinem Tod die wichtige Frage stellt.
Das zeigt
nochmals die Überlegenheit des Türhüters und die
Bedeutungslosigkeit der Fragen des Mannes vom Lande bsi auf diese
eine Letzte.
Ganz
offensichtlich bezieht sich diese Geschichte auf die momentane
Situation Josef K.s. Der Mann vom Lande stellt die entscheidende
Frage erst, als es zu späht ist so wie auch K.sich nicht ernsthaft
genug nach dem tieferen Sinn seines Prozesses fragt. Beide halten die
äußeren Umstände für den Grund ihrer Probleme anstatt die Gründe
in sich selbst zu suchen. Beide fixieren sich auf unwesentliche Dinge
und gehen der Konfrontation mit ihren eigenen Fehlern aus dem Weg.
Der Geistliche
wollte K.mit dieser Geschichte auf den Grund seiner Täuschung
hinweisen und ihm helfen, den wahren Grund für seine Verhaftung
herauszufinden.
Eine mögliche
Deutung des Gerichtes in der Parabel ist, dass es symbolisch für ein
Lebensgericht des Mannes vom Lande steht. Eine Parallele zu K.s
Anklage: auch K.s Prozess könnte eine Art 'Lebensprozess' sein. Eine
Anklage die aus K.s eigenem Gewissen stammt und ihm vorwirft, an
seinem Leben vorbei zu leben und den wirklichen Sinn des Lebens zu
verfehlen. Aber genau wie der Mann vom Lande in der Parabel,
beschäftigt auch K. Sich nur oberflächlich mit den Gründen seiner
Verhaftung. Stattdessen belügt er sich selbst, in dem er sich
einredet, nicht zu wissen wofür er angeklagt wird. Ein zufriedenes
Leben zu führen, bedeutet Verwantwortung für die eigenen Taten zu
übernehmen und zu seinen Sichtweisen zu stehen. Genau das macht
K.nicht. Stattdessen scheint K. chronisch unzufrieden zu sein und
nicht in der Lage Fehler bei sich zu suchen. Das dies der Grund für
die merkwürdige Verhaftung sein könnte, scheint K.auch nachdem er
die Parabel gehört hat nicht zu erkennen.
Ein eindeutige
Klärung der Parabel wird jedoch hartnäckig verweigert. K.verhält
sich hinterher sogar noch unsicherer als zuvor.
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